Entschädigung für Aktionäre?

Wirecard-Zivilprozess: Ein Musterkläger für 8500 Aktionäre

21. November 2024 , 06:30 Uhr

Seit Ende 2022 läuft der Wirecard-Strafprozess. Die zivilrechtlichen Schadenersatzforderungen stellen dessen Dimensionen noch in den Schatten: zehntausende Beteiligte, Millionen Seiten an Papier.

Viereinhalb Jahre nach der Wirecard-Pleite wird Bayerns Oberstes Landesgericht an diesem Freitag stellvertretend für eine Lawine von Schadenersatzforderungen die Musterklage eines hessischen Aktionärs verhandeln. Doch dabei wird es weniger um Wirecard gehen als um die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die die mutmaßlich falschen Bilanzen des 2020 zusammengebrochenen Dax-Konzerns über Jahre bestätigt hatte. Musterkläger-Anwalt Peter Mattil geht davon aus, dass ein vergleichsweise schnelles Urteil innerhalb der nächsten Jahre möglich ist. Das sagte der Münchner Jurist der Deutschen Presse-Agentur. 

Urteil in drei Jahren?

«Die Feststellungsziele, die wir bei Gericht eingereicht haben, umfassen mit Begründung 800 Seiten», sagte Mattil. «Darunter sind sehr viele Pflichtverletzungen von Ernst & Young, die wir einzeln dargelegt und beschrieben haben. Das muss natürlich abgearbeitet werden. Wenn das Gericht zügig arbeitet und ein Gutachten in Auftrag gibt, um diese Feststellungsziele abzuhandeln, könnte das in der ersten Instanz in drei Jahren erledigt sein.» 

EY weist die Vorwürfe zurück: «Wir bewerten die Schadensersatzklagen gegen EY Deutschland als unbegründet», erklärte ein Sprecher. «Daher ist unsere Position weiterhin, dass Ansprüche gegen EY Deutschland auf Schadenersatz nicht bestehen.»

 Rechtsfragen für Feinschmecker

Das Gericht will zunächst prüfen, ob im Rahmen des Kapitalanleger-Musterverfahrens überhaupt gegen EY verhandelt werden kann. In der Formulierung des Gerichts: Es wird insbesondere darum gehen, ob die «Feststellungsziele» gegen EY «statthaft» seien. 

Auf Entschädigung hoffen können geschädigte Anleger dann, wenn sie durch falsche Informationen zum Kauf der jeweiligen Aktie verleitet wurden. Im Fall Wirecard waren es die mutmaßlich frei erfundenen Gewinne in den Bilanzen des Konzerns – bestätigt durch die Abschlussprüfer von EY. Eine Rechtsfrage ist, ob Bestätigungsvermerke und Unterschriften der EY-Prüfer unter den Wirecard-Bilanzen Kapitalmarktinformationen waren oder nicht. Eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiche Klagen ist darüber hinaus der Nachweis, dass Anleger vorsätzlich in die Irre geführt wurden. 

Bei Ex-Vorstandschef Braun ist nicht viel zu holen – EY das eigentliche Ziel 

EY steht in einer Reihe von 11 «Musterbeklagten» zwar nur an zweiter Stelle hinter Ex-Vorstandschef Markus Braun. Doch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ist die eigentliche Zielscheibe. Denn bei Braun ist nicht mehr viel zu holen. Der österreichische Manager war einst Milliardär. Doch mit der Wirecard-Pleite verlor auch Braun sein zum größten Teil aus Wirecard-Aktien bestehendes Vermögen. Die übrigen Musterbeklagten können ebenfalls keine dreistelligen Millionensummen zahlen: Es handelt sich um Brauns zwei Mitangeklagte im Strafverfahren, einen früheren Wirecard-Finanzvorstand, vier ehedem mit Wirecard befasste EY-Prüfer persönlich sowie die zwei Insolvenzverwalter der Wirecard AG und der Vermögensverwaltung Brauns. 

Wirecard-Aktionäre erlitten horrende Kursverluste 

Das zivilrechtliche Musterverfahren läuft getrennt vom Strafprozess, in dem sich Braun und Mitangeklagte seit Dezember 2022 verantworten müssen. Die Musterklage wird quasi stellvertretend für 8.500 Schadenersatzklagen mit Forderungen von 750 Millionen Euro verhandelt. Diese 8.500 Verfahren sind nun bis zum Endes des Musterprozesses ausgesetzt. Wirecard-Aktien waren 2018 auf fast 200 Euro pro Stück gestiegen, nach der Pleite 2020 waren es nur noch Cent-Beträge. 

Zehntausende Forderungen, Millionen Seiten an Papier

Sinn und Zweck des Musterverfahrens ist es, die juristische Aufarbeitung des Skandals zumindest ein wenig zu vereinfachen und zu beschleunigen: Die Münchner Zivilgerichtsbarkeit ächzt unter der Wirecard-Last: Abgesehen von den eigentlichen Klagen haben 19.000 Aktionäre Schadenersatzforderungen angemeldet, wie der Sprecher des Bayerischen Obersten Landesgerichts (BayObLG) mitteilt. Und im Insolvenzverfahren summieren sich die Forderungen mittlerweile auf über 15 Milliarden Euro. Darunter sind laut BayObLG 50.000 Aktionäre, die für ihre Kursverluste 8,5 Milliarden Euro verlangen. Ganz praktisch bedeutet dies, dass bei den Gerichten mehrere zehntausend Schriftsätze eingegangen sind. Da diese oft mehrere hundert Seiten umfassen, handelt es sich in Summe wahrscheinlich um mehrere Millionen Seiten an Papier. Gezählt hat diese allerdings niemand.

Aktionärsgemeinschaft kontra Gericht 

Nicht alle sind daher so optimistisch wie Musterklägeranwalt Mattil. Die Aktionärsgemeinschaft SdK wirft dem Bayerischen Obersten Landesgericht Trödelei vor: «Das ist das größte Zivilverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik», sagte SdK-Vorstandsmitglied Marc Liebscher. «Es sind seit Einreichung der ersten Klage über viereinhalb Jahre vergangen, bis wir eine erste mündliche Verhandlung haben, und das auch nur zur Klärung einer Teil-Vorfrage.» 

Allein die Auswahl eines Musterklägers habe ein Jahr gedauert. In der Aktionärsgemeinschaft herrscht nach Liebschers Worten das Gefühl vor, «dass am Bayerischen Oberste Landesgericht wegen mangelnder Digitalisierung und vielleicht auch wegen mangelnden Personals sowohl die Ausstattung als auch der Wille fehlen. Unser Eindruck ist, da sollen die Kläger durch Frustration und Langwierigkeit demotiviert werden.»

Mehrere Jahre Prozessdauer «unvermeidlich» 

Das Gericht dagegen verweist auf die Komplexität des Verfahrens mit der Vielzahl von Beteiligten und Forderungsanmeldungen. «Schon angesichts dessen ist der geschilderte Vorwurf nicht nachvollziehbar», sagte ein Sprecher. Mittlerweile hätten der Musterkläger und weitere Verfahrensbeteiligte insgesamt an die 2.500 weitere Feststellungsziele formuliert. Mit Blick auf die gesetzliche Konzeption des Kapitalanleger-Musterverfahrens und die Dimension des Wirecard-Falls geht auch das Gericht davon aus, «dass eine Verfahrensdauer in erster Instanz von mehreren Jahren unvermeidbar erscheint.»

Als Negativbeispiel gilt bis heute das Telekom-Verfahren, der erste Musterprozess in Deutschland. Dieser dauerte zwanzig Jahre, der ursprüngliche Musterkläger verstarb Jahre vor dem Abschluss. Klägeranwalt Mattil zumindest fürchtet in dieser Hinsicht keine Wiederholung: «Wenn das Verfahren zügig weiterläuft, wird das keine zwanzig Jahre dauern. Es hängt auch viel von den Anwälten ab.»

Quelle: dpa

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